Ihr Lieben
Unser Leben in der Gemeinschaft, sei es Partnerschaft, Familie oder Gesellschaft verändert sich in den letzten Jahren besonders schnell und besonders intensiv. In vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens können wir nicht so weitermachen wie bisher. Es zeigt sich jedoch großer Widerstand gegen Veränderungen. Dieses Phänomen ist mir aus meiner Praxis, in die die Menschen ja ‚eigentlich‘ kommen, weil sie Veränderungen wünschen, gut bekannt. Veränderungen soll häufig bedeuten: Können wir nicht den früheren Zustand, in dem ich noch ‚funktioniert‘ habe, wieder herstellen? Ungeachtet dessen, dass dieser „Zustand“ zu der aktuellen Krise geführt hat. So gibt es heute immer radikalere Forderungen, zu behalten was wir haben. Auf diese Weise ist es natürlich nicht möglich, Krisen zu bewältigen.
Gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, dass wir mit Selbstmitgefühl die Verantwortung für unsere Lebensaufgaben übernehmen und unsere Bedürfnisse unter Aufrechterhaltung unserer Werte befriedigen. Dazu kann es uns helfen, uns von alten Lasten und Schmerzen zu befreien, anstatt diese als Erklärung für unsere Abhängigkeiten zu benutzen. Der Ursprung von Abhängigkeiten, welcher Art auch immer, liegt darin, dass wir als Kind tatsächlich völlig abhängig von der Fürsorge unserer Eltern oder anderer Bezugspersonen waren. Wir brauchten deren Anerkennung, um uns frei entfalten zu können. Wenn wir nicht durch Liebe und Nähe in unserem Selbstbewusstsein gestärkt wurden und unsere Wertigkeit selbst in Frage stellen mussten, werden wir entweder weiter nach der Anerkennung anderer streben oder aber uns von den anderen zurückziehen. Vielleicht sprechen wir sogar von Liebe, während wir bemüht sind, etwas zu tun, was uns von möglichen Konfliktsituationen befreit. Wahrhaftig geht es uns in solchen Fällen jedoch darum, dafür zu sorgen, dass die anderen zufrieden mit uns sind.
Beginnen wir jedoch die Ver-ANTWORT-ung für uns selbst zu übernehmen, müssen wir die Antworten in uns suchen. Welche Werte wollen wir leben? Welchen Sinn wollen wir unserem Leben geben? Sind wir bereit, unsere bisher unterdrückten Gefühle, mit denen wir belastet und in Schutzmauern gefangen sind, wieder uns befreiend zu fühlen? Im Tanz unseres Lebens in Gemeinschaft geht es darum, feinfühlig wahrzunehmen, wann wir gefordert sind zu führen und wann wir uns dem hingeben, was uns führt. Diese Unter-scheidung treffen zu können befreit uns davon, uns als Opfer zu begreifen und hütet uns davor zu Täter*innen zu werden.
Und nun, wie immer eine Geschichte für die Herzensohren:
Die Geschichte von der Perlmuschel.
Eine wunderschöne Muschel schwamm im Meer. Um Nahrung aufzunehmen, musste sie sich immer ein wenig öffnen. Dann spülten mit dem Wasser Plankton oder andere kleine Pflanzenteile in die Muschel, von denen sie sich ernährte. Eines Tages geriet dabei ein Sandkorn in die Muschel. Es verletzte ihr Inneres mit seinen scharfen Kanten und tat ihr ziemlich weh. Die Muschel wehrte sich verzweifelt gegen dieses Sandkorn und versuchte alles, um es wieder loszuwerden. Sie öffnete und schloss sich mit allen Kräften. Sie drehte und wand sich, aber das Korn saß fest und ließ sich durch nichts hinausbewegen. Die Wunde, die das Sandkorn ihr zugefügt hatte, schmerzte immer schlimmer. Doch als die anderen Muscheln sie fragten: „Was hast du? Ist alles in Ordnung?“, antwortete sie: „Danke, es ist alles in bester Ordnung, mir geht es sehr gut.“ „Nur keine Schwäche zeigen“, dachte sie. „Ich muss tapfer sein und darf mir janichts anmerken lassen! Sonst lachen die anderen mich aus und mögen michnicht mehr. Plötzlich musste sie an ihre Mutter denken. „Stell dich nicht so an, und sei keine elende Heulsuse“, hatte sie immer gesagt, und ihr Vater hatte hinzugefügt: „Du siehst schrecklich aus mit deinem verheulten Gesicht. So mag dich bestimmt keiner!“ Und dann hatte sie tapfer aller Tränen hinuntergeschluckt. Eines Tages hielt es die Muschel vor Schmerzen fast nicht mehr aus.Da kam ein sehr alter Tintenfisch vorbeigeschwommen. Er sah sofort, dass es der Muschel nicht gut ging. „Hallo Muschel, bist du krank oder hast du Kummer?“, fragte der Tintenfischvoller Anteilnahme. Die Muschel antwortete wieder: „Nein, es geht mir prächtig!“ Aber vor lauter Schmerzen konnte sie kaum sprechen. „Komm, lass dich mal in den Arm nehmen und ein wenig trösten!“ sagte der Tintenfisch und schlang einen seiner langen Arme vorsichtig um die Muschel. „Wir sind doch Freunde, und ich möchte dir gern helfen. Magst du mir nicht von deinem Kummer erzählen?“ „Lachst du mich auch nicht aus? Und nennst du mich nicht Schwächling?“ ,fragte die Muschel immer noch zögernd. „Bestimmt nicht!“ entgegnete der Tintenfisch. „Du musst nicht immer stark und tapfer sein und deinen Kummer in deiner harten Schale verschließen, sondern du darfst zeigen, wie dir zumute ist. Du darfst auch traurig sein und weinen.“ „Wirklich?“, fragte die Muschel immer noch zweifelnd. „Ich hatte solche Angst, ihr mögt mich dann alle nicht mehr. Ach, tut das gut, dass ich jetzt über meinen Kummer reden kann!“ Und dann erzählte sie von dem Sandkorn, und dass es keine Möglichkeit mehr gibt,es wieder loszuwerden. Und dabei weinte sie all die Tränen, die sie so lange Zeitkrampfhaft zurückgehalten hatte. Der Tintenfisch hörte ihr geduldig zu und streichelte sie behutsam. Die Muschel ließ ihre Tränen fließen. Sie weinte und weinte, und ihre Tränen legten sich wie ein in allen Farben des Regenbogens schillernder Mantel um das Sandkorn und hüllten es sanft ein.J e mehr die Muschel weinte, desto mehr Tränen umschlossen das Sandkorn. Am Ende war in der Muschel eine wunderschön schimmernde Perle gewachsen. Und die Muschel konnte glücklich weiterleben.
aus: „Weil der Tod zum Leben gehört“ von Heinke Geiter
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